Kein Pilz ist so bekannt wie der Fliegenpilz – und das zu Recht: Die verhältnismäßig großen Fruchtkörper der Art gepaart mit dem leuchtend roten Hut, der kontrastreich von weißen Flocken übersät ist, machen den Pilz auch für unsere Kleinsten leicht erkennbar. Nicht zuletzt deshalb ist er fest in unserer Kultur verankert, von Super Mario über Alice im Wunderland bis hin zu menschengroßen Nachbildungen in Kunstausstellungen. Aber wie giftig ist der Fliegenpilz eigentlich, was macht ihn giftig und was hat das mit seiner Hutfarbe zu tun? Das und viel mehr erfährst du in diesem Artikel!

1 Wie erkenne ich den Fliegenpilz?

1.1 Wo kann man den Fliegenpilz im Reich der Pilze einordnen?

Der Fliegenpilz (Amanita muscaria) zählt zur Gattung der Wulstlinge (Amanita). Dabei handelt es sich um Lamellenpilze mit meist weißer Hutunterseite, die eine Gesamthülle besitzen und an der Stielbasis verdickt sind; diese verdickte Stielbasis ist namensgebend für die Wulstlinge. Sie zählen laut aktuellem Stand 784 Arten weltweit und sind damit eine große Gattung; zu ihnen gehören sowohl sehr gute Speise- als auch tödlich giftige Knollenblätterpilze.

1.2 Was sind die wichtigsten Merkmale des Fliegenpilzes?

So wie viele andere Wulstlinge besitzt der Fliegenpilz gleich zwei Schutzhüllen – sogenannte Vela (Singular: Velum): Im jungen Stadium ist der gesamte Fruchtkörper von Stielbasis bis Hutoberseite durch eine weiße Membran, die sogenannte Gesamthülle (velum universale), bedeckt. Wenn der Pilz größer wird, stößt er durch die Gesamthülle durch – sie platzt und hinterlässt die charakteristischen Velumflocken (Lüder, 2018, S. 298).

Seine Lamellen schützt der Fliegenpilz auch durch eine weiße Membran – die Teilhülle (velum partiale). Diese spannt sich zwischen Stiel und Hutrand. Auch sie platzt, wenn der Hut sich beim Wachsen ausbreitet, und auch sie hinterlässt uns ein Bestimmungsmerkmal: Die Reste der Teilhülle hängen oft am Stiel herab, sodass sich ein Stielring ergibt.

Leider sind die Teil- und Gesamthülle des Fliegenpilzes und damit einhergehend die Velumflocken sowie der Stielring so schön wie vergänglich: Durch starken Regen können die Velumflocken abgespült werden, sodass der Hut kahl ist, und Schnecken haben eine Vorliebe für die weiße Membran, die die gerissene Teilhülle am Stiel hinterlässt.

Glücklicherweise gibt es aber ein Merkmal, das den Fliegenpilz sehr deutlich von anderen Pilzen unterscheidet: Macht man von Hut bis Knolle einen Längsschnitt, findet man unmittelbar unter der Huthaut eine dünne gelblich-orangene Schicht. Anhand dieser Schicht kann man den Fliegenpilz selbst dann erkennen, wenn er sich noch in seiner Gesamthülle befindet!

1.3 Wo wächst der Fliegenpilz?

Bevor wir diese Frage klären, ist es nötig zu erläutern, dass der Fliegenpilz nicht alleine Fruchtkörper ausbilden kann: Er benötigt einen Baumpartner, mit dem er in Symbiose lebt. Die Hyphen des Pilzes – unterirdische, wenige Mikrometer große, schlauchförmige Gebilde – verbinden sich dabei mit den Wurzeln des Baumes, sodass ein Tauschhandel stattfinden kann: Der Pilz liefert Nährstoffe wie Stickstoff und Phosphor, der Baum gibt durch Photosynthese erzeugte Zuckerverbindungen an den Pilz ab. Diese Lebensgemeinschaft von Pflanze und Pilz nennt man Mykorrhiza; das Wort stammt von den altgriechischen Ausdrücken „μύκης“ (mýkēs, Pilz) und „ῥίζα“ (rhíza, Wurzel).

Grundsätzlich gilt also: Will man den Fliegenpilz finden, so sollte man zunächst seine Baumpartner suchen. Bei diesen handelt es sich vorzugsweise um Fichte, Birke und Kiefer. Kiefern findet man in Hilchenbach und Umgebung nur noch vereinzelt, deshalb sind diejenigen Bäume, auf die wir in unserer Region achten sollten, Birken und Fichten.

Eine weitere Vorliebe des Fliegenpilzes ist ein niedriger pH-Wert im Boden – Fliegenpilze mögen es gerne sauer. Da der pH-Wert Siegerländer Böden fast ausnahmslos unter dem neutralen Wert von 7 liegt, ist dieser Standortanspruch in unserem Gebiet jedoch kaum erwähnenswert.

1.4 Mit welchen anderen Pilzen kann man den Fliegenpilz verwechseln?

Wenn man die typischen Merkmale des Fliegenpilzes kennt, ist er eigentlich nur mit einem Pilz zu verwechseln – dem Königsfliegenpilz (Amanita regalis). Dieser Pilz ist dem Fliegenpilz so ähnlich, dass er lange Zeit als Variante des Fliegenpilzes statt als eigenständige Art galt. Entsprechend hat der Königsfliegenpilz im Wesentlichen dieselben Merkmale, allerdings erscheint er meistens einige Wochen früher als der Fliegenpilz, hat einen bräunlichen Hut und gelbliche statt weiße Velumflocken. Zudem kommt er nur gebietsweise häufiger vor; im Siegerland haben wir bisher keinen Königs-Fliegenpilz gefunden.

Ansonsten wären als Verwechslungspartner andere Wulstlinge denkbar, wie der hiesige Perlpilz (Amanita rubescens). Dieser hat auch weiße Lamellen, ist mit Velumresten beflockt, trägt einen hängenden Ring und ist an der Stielbasis verdickt. Dazu kommt, dass er ähnlich groß ist und auch dort vorkommen kann, wo man üblicherweise Fliegenpilze antrifft. Allerdings hat der Perlpilz im Gegensatz zum Fliegenpilz keine weißen, sondern schmutzig braune, graue oder rötliche Velumflocken und keine parallel zueinander verlaufenden Rillen (sogenannte Riefen) auf dem Stielring. Außerdem ist er unter der Huthaut nicht gelb, sondern rötlich und weist diese Rottöne in Hut, Stiel und besonders an Fraßstellen auf.

In südlichen Ländern Europas sowie gebietsweise im südlichsten Süden Deutschlands findet sich der bereits von Caesar begehrte Kaiserling (Amanita caesaria). Nicht selten wurde er mit dem Fliegenpilz verwechselt, aber da er in unserer Region nicht vorkommt, erwähnen wir ihn an dieser Stelle lediglich.

2 Die Giftwirkung des Fliegenpilzes

2.1 Welche Giftstoffe enthält der Fliegenpilz?

Der Fliegenpilz enthält zuvorderst zwei Stoffe, die seine Giftwirkung hervorrufen: Ibotensäure und Muscimol. Ibotensäure ist ein Nervengift, das vom Fliegenpilz gebildet wird, um Fraßinsekten abzuwehren. Frisst ein Insekt vom Fliegenpilz, ist es nach kurzer Zeit betäubt und kann den Pilz nicht weiter essen. Deshalb tunken Menschen bereits seit dem 13. Jahrhundert (Sauer & Weilemann, 2001, S. 66) Fliegenpilze in Milch oder Wasser, damit die betäubten Insekten darin ertrinken.

Interessanterweise hängen die leuchtenden Farben des Pilzes direkt mit dem Gift zusammen: Der Fliegenpilz verstoffwechselt Ibotensäure zu Muscarufin, Muscapurpurin und anderen Farbstoffen, die aus denselben Bausteinen wie die Farbstoffe der roten Beete bestehen (Patočka & Kocandrlová, 2017, S. 129–130) und für die leuchtende rote Hutfarbe sorgen (Talbot & Vining, 1963).

Dass das Abziehen der Huthaut die Giftwirkung des Pilzes merklich verringert, wird häufig behauptet, ist aber falsch; die darunterliegende gelbe Schicht enthält am meisten Wirkstoff. Das haben Gore & Jordan, 1982, S. 327 herausgefunden:

Tabelle 1: Gehalt von Ibotensäure und Muscimol nach Pilzteil (in nmol/g Frischgewicht)
Gewebe Ibotensäure Muscimol
Huthaut 0 113,9
gelbe Schicht 584 366
Fleisch 153 308,7
Lamellen 73 365
Stiel 48,4 79,9

Interessanterweise weist die Säure eine starke Ähnlichkeit mit der chemischen Struktur vom Geschmacksverstärker Glutamat auf, weshalb der Fliegenpilz beim Verzehr einen ausgeprägten Umami-Geschmack – wie bei Sojasauce, Miso-Paste oder Fleisch – hervorruft (Bresinsky & Besl, 1990, S. 99).

Der zweite Stoff, Muscimol, hängt auch direkt mit Ibotensäure zusammen: Er entsteht, wenn Ibotensäure durch Wärme ein Kohlenstoffdioxid-Molekül verliert. Dieser Prozess wird als „Decarboxylierung“ bezeichnet und findet sowohl im menschlichen Körper nach Einnahme von Ibotensäure als auch – in deutlich höherem Maß – beim Trocknen statt. Durch die strukturelle Ähnlichkeit zu Ibotensäure wirkt Muscimol auch ähnlich – aber dafür fünf- bis zehnmal stärker (Flammer & Horak, 1983, S. 39).

Die Wirkung dieses psychoaktiven Stoffes, der eine geringere Schädlichkeit für das Gehirn als Ibotensäure aufweist, wurde in Sibirien und Nord-Ost-Asien von Schamanen genutzt – beispielsweise, um den Grund der Erkrankung eines Kindes zu erfahren oder um mit den Seelen der Verstorbenen zu kommunizieren (Saar, 1991). Auch in Deutschland trocknen einige Menschen den Fliegenpilz und trinken ihn als Tee, allerdings raten wir dringend hiervon ab.

Ein weiterer Stoff, der im Fliegenpilz nachgewiesen wurde, ist Muscazon. Er gehört genauso wie Ibotensäure und Muscimol zur Stoffgruppe der Isoxazole. Muscazon gilt allerdings als deutlich weniger wirksam als Ibotensäure und Muscimol (Michelot & Melendez-Howell, 2003, S. 134), daher sei er an dieser Stelle zwar erwähnt, aber nicht weiter behandelt. Wer mehr über die Gesamtheit der Wirkstoffe vom Fliegenpilz erfahren möchte, sei auf Patočka & Kocandrlová, 2017 verwiesen.

Zudem enthält der Fliegenpilz den Stoff Muscarin. Der Name bezieht sich auf den wissenschaftlichen Artnamen „muscaria“, der aus dem Lateinischen stammt und mit „bezogen auf die Fliege“ übersetzt werden kann. Muscarin ist also der Fliegenstoff – und als er im Jahre 1869 von Schmiedeberg & Koppe als erster Giftstoff im Fliegenpilz nachgewiesen wurde1, ging man auch davon aus, dass er als Hauptwirkstoff des Fliegenpilzes dafür sorgt, dass die Fliegen gelähmt sind. Später fand man allerdings heraus, dass in 500kg frischen Fruchtkörpern im Schnitt lediglich 1g Muscarin enthalten ist (Flammer, 2014, S. 89).

Da ein erwachsener Mensch ab einer Dosis von 180mg Muscarin in akuter Lebensgefahr schwebt (Bresinsky & Besl, 1990, S. 73), müsste man mindestens 90kg Fliegenpilz essen, um an einer Muscarinvergiftung zu sterben. Im Vergleich zu einigen Risspilzen und weißen Trichterlingen, die die bis zu hundertfünzigfache Menge an Muscarin enthalten, ist diese Dosis fast schon homöopathisch. Und dennoch: Man vermutet, dass auch kleine Mengen Muscarin zu verstärkter Speichelbildung führen können, wodurch das typische Phänomen, das als „Schaum vorm Mund“ bezeichnet wird, bei einer Fliegenpilzvergiftung auftreten kann.

2.2 Wie genau wirken Ibotensäure und Muscimol?

Die Wirkweise vom Hauptwirkstoff Muscimol hängt mit den sogenannten GABA-Rezeptoren zusammen; der Name „GABA“ ist die Abkürzung für „Gamma-Aminobuttersäure“ (das letzte „A“ kommt vom Englischen „acid“ für „Säure“). GABA ist wie Serotonin und Dopamin ein Neurotransmitter. Er regelt primär den körperlichen Erregungszustand und damit die Aktivität im Angstzentrum (der Amygdala), den Spannungszustand der Muskeln und die Tiefe des Schlafs. Aus diesem Grund enthalten viele Beruhigungs- und Schlafmittel Stoffe, die GABA ausschütten – allen voran Benzodiazepine wie Lorazepam oder Diazepam (besser bekannt als Valium).

Weil Muscimol GABA sehr ähnlich ist, dockt es an die GABA-Rezeptoren an. Welche chemischen Prozesse genau stattfinden, ist bisher zwar nicht ausreichend erforscht (Sauer & Weilemann, 2001, S. 67), trotzdem haben wir guten Grund davon auszugehen, dass Muscimol hemmend auf Nervenzellen wirkt (Curtis et al., 1979).

Da man davon ausgeht, dass Ibotensäure im Körper zumindest teilweise zu Muscimol umgewandelt wird, betrachtet man in der wissenschaftlichen Literatur in Bezug auf die Wirkweise in der Regel nur Muscimol. Redet man von Wirkstoffkonzentrationen, errechnet man dann ein Muscimoläquivalent – die Menge, die man an reinem Muscimol zu sich nehmen müsste, um dieselbe Wirkung zu erhalten, wie die vorliegende Menge von Ibotensäure und Muscimol auslösen würde.

2.3 Wie stark variiert der Giftstoffgehalt?

Was man grundsätzlich für Pilze festhalten kann, gilt auch für den Fliegenpilz: Die Konzentration bestimmter Stoffe ist enorm variabel – und zwar auf verschiedenen Ebenen. Zum einen kann der Wirkstoffgehalt je nach Standort anders sein. Deutsche Fliegenpilze haben bei gleicher Menge laut Wurster et al., 2004, S. 161 ca. 1/3 mehr Wirkstoff als die oben angesprochenen sibirischen, aber auch regional gibt es deutliche Unterschiede.

Dazu kommt, dass zwischen zwei Fruchtkörpern am selben Standort starke Variationen auftreten können. Auf der einen Seite hängt das mit der Sammelzeit zusammen: Im September gesammelte Fruchtkörper lösen teils andere Effekte aus als im August gesammelte (Michelot & Melendez-Howell, 2003, S. 132). Auf der anderen Seite kann der Ibotensäure- und Muscimolgehalt je nach Reifegrad variieren; genau erforscht ist diese Frage unseren Recherchen nach allerdings nicht. Als Letztes – und das hat uns bereits Tabelle 1 gezeigt – kann man hinzufügen, dass der Ibotensäure- und Muscimolgehalt selbst zwischen den Teilen eines einzelnen Fruchtkörpers variiert.

2.4 Welche Symptome löst der Fliegenpilz aus?

Nun wissen wir, dass der Wirkstoffgehalt von Fliegenpilzen stark variieren kann. Aber womit muss man rechnen, wenn ein Mensch einen Fliegenpilz isst? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst nötig, zu erläutern, dass sowohl die Symptome selbst als auch deren Intensität von drei Schlüsselfaktoren abhängen: der körperlichen Verfassung, dem psychischen Zustand und dem Wirkstoffgehalt.

Was die körperliche Verfassung betrifft, spielt das Gewicht die größte Rolle: Je mehr man wiegt, desto schwächer sind die Symptome bei gleicher Dosis. Andersherum gilt auch, dass geringeres Gewicht zu stärkeren Symptomen führt. Aus diesem Grund haben Kinder beim unbeabsichtigten Verzehr von Fliegenpilzen oft besonders starke Beschwerden, wie beispielsweise epileptische Anfälle (Benjamin, 1992, S. 19). Im Übrigen: Auch Hunde können sich eine Fliegenpilzvergiftung einheimsen, die ganz ähnlich verläuft wie bei Menschen (Naudé & Berry, 1997).

In Bezug auf die psychische Verfassung sind zwei Faktoren wichtig. Zum einen geht es um den allgemeinen psychischen Zustand: Je schlechter es der Person geht, desto höher ist das Risiko für eine ausgeprägt negative Symptomatik. Zum anderen spielt eine wichtige Rolle, ob man eine Veränderung in der Wahrnehmung erwartet. Je unerwarteter die Wirkung kommt, desto unangenehmer werden die Symptome.

Der wichtigste Faktor, der bestimmt, welche Symptome in welcher Intensität auftreten, ist aber die Dosis: Wie viel Ibotensäure und Muscimol hat man zu sich genommen? Wie gerade bereits erläutert, ist die Frage, wie viele Fliegenpilze man für welche Dosis genau essen müsste, aufgrund der starken Schwankungen des Wirkstoffgehalts nur im Einzelfall mit wissenschaftlichen Tests zu bestimmen (siehe bspw. Ginterová et al., 2014).

Dennoch gibt es Schätzungen von Forschenden, auf die wir uns hier beziehen: Laut Barceloux, 2008, S. 300 enthalten 100g frischer Fliegenpilz ein Muscimoläquivalent von 12mg2. Da ein durchschnittlich großer Fruchtkörper ca. 60-70 Gramm wiegt, enthält er zwischen 7,2mg und 8,4mg Muscimoläquivalent. Spürbare Effekte beginnen bereits bei 5-6mg Muscimol (Flammer, 2014, S. 90), daher reicht bereits ein einzelner roher Fliegenpilz aus, um eine Vergiftung hervorzurufen!

Bei einer solchen schwachen Vergiftung lassen sich Symptome beobachten, die einer Alkoholvergiftung ähneln: Benommenheit, unsicherer Gang, gehobene Stimmung und unkoordinierte Bewegungen treten häufig auf (Barceloux, 2008, S. 40), dazu weiten sich die Pupillen der vergifteten Person. Diese Wirkung wird meist von jenen gesucht, die den Fliegenpilz aus Rauschzwecken konsumieren.

Ein Fun Fact am Rande: Da Ibotensäure und Muscimol größtenteils unverändert ausgeschieden werden, war es gerade im Mittelalter nicht unüblich, dass ärmere Menschen den Urin von Reichen tranken, die den Fliegenpilz konsumiert hatten, um auch eine Rauschwirkung zu erzielen (Geschwinde, 2018, S. 184).

Nimmt man eine noch höhere Dosis zu sich, ist mit Verzerrungen im Hören, im Sehen und in der Zeitwahrnehmung zu rechnen. Oft sind die Betroffenen dann nur noch bedingt ansprechbar. Um ein Beispiel aus der Literatur zu nennen:

Dem Pflegepersonal fällt im Laufe des Nachmittags auf, dass [der Patient] offenbar akustische Halluzinationen hat. Er drängt nachts wiederholt aus dem Bett. Am 3.10. beschwert er sich bei der Visite darüber, dass „die da nebenan“ über ihn redeten. Es seien keine Patienten, sondern „welche von der Schule“. Sie machten ihm Vorwürfe wegen seiner politischen Haltung […]. Einzelheiten hierüber werden anscheinend vermieden. (Donalies & Völz, 1960, S. 182)

Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass stark vergiftete Personen oft eine buchstäblich realitätsferne Wahrnehmung haben. Es benötigt nicht viel Vorstellungskraft, um zu erkennen, dass durch solche Wahrnehmungsabweichungen sowohl Angstzustände als auch Manie entstehen können (Sauer & Weilemann, 2001, S. 69).

Glücklicherweise gilt in aller Regel: Bei starken Vergiftungen, wie wir sie gerade beschrieben haben, fallen die Patient:innen in einen tiefen Schlaf3 und wachen nach ca. acht Stunden auf, ohne auch nur eine einzige Erinnerung zu haben (Flammer, 2014, S. 90); bleibende Schäden sind nicht zu verzeichnen (Michelot & Melendez-Howell, 2003, S. 132). Was ein Segen für die betroffene Person ist, kann für Ärzte, die den gesamten Prozess begleitet haben, rückblickend sehr unterhaltsam sein.

Dennoch gibt es Einzelfälle, die schwerer verlaufen. Eine in Slowenien lebende Person litt fünf Tage lang unter einer paranoiden Psychose mit Halluzinationen im Hören und im Sehen (Flament et al., 2020, S. 40), ein Kind in den USA hatte Krampfanfälle und äußerte Symptome einer starken Atemdepression (Benjamin, 1992, S. 19).

Im Übrigen: Eine Vergiftung mit Ibotensäure und Muscimol lässt sich nicht wirklich behandeln. In der Regel wartet man die Symptome, die je nach Dosis mehrere Stunden bis wenige Tage andauern, einfach ab, im Zweifelsfall werden starke Beruhigungsmittel verabreicht (Benjamin, 1992, S. 16).

2.5 Ist der Fliegenpilz tödlich giftig?

Nun haben wir die Symptome, die bei einer Vergiftung mit dem Fliegenpilz entstehen können, beschrieben. Wir wissen, dass bereits ein einziger Pilz ausreicht, um eine Giftwirkung hervorzurufen, und dass auch bei starken Vergiftungen in der Regel keine Folgeschäden entstehen. Aber kann man vom Fliegenpilz sterben?

Ab welcher Dosis Ibotensäure und Muscimol für Menschen tödlich sind, ist nicht genau bekannt. Es wurden allerdings Tierexperimente durchgeführt: Bei Mäusen liegt die Dosis, bei der mindestens 50% der Tiere starben („LD50“), bei 17mg Muscimol pro Kilogramm Körpergewicht, bei Ratten sind es 45mg. Überträgt man das auf eine 65kg schwere Frau, sind das zwischen 1105 und 2925mg Muscimol, was sich in 9 bis 24kg Frischpilz übersetzen lässt.

Zwar sind die Zahlen aus den Tierversuchen sicher nicht gänzlich auf den Menschen übertragbar, aber man kriegt eine Idee davon, wie riesig der Unterschied zwischen ersten Vergiftungserscheinungen und Tod ist. Das erklärt auch, warum es Vergiftungsfälle gibt, bei denen die vergiftete Person 20 Fliegenpilze aß und überlebte (Geschwinde, 2018, S. 67).

Nichtsdestotrotz gibt es – wenn auch sehr, sehr selten – Todesfälle in Zusammenhang mit dem Fliegenpilz. Bei unseren ausführlichen Recherchen trafen wir zwar lediglich auf einen dokumentierten Fall aus Tschechien, bei dem ein Mann im Alter von 55 Jahren verstarb (Flament et al., 2020, S. 42), dennoch soll er hier der Vollständigkeit halber erwähnt werden.

3 Fazit

In diesem Artikel haben wir uns mit der Frage beschäftigt, wie giftig der Fliegenpilz ist. Dafür haben wir zunächst den Fliegenpilz selbst dargestellt, indem wir ihn im Reich der Pilze eingeordnet und seine wichtigsten Bestimmungsmerkmale aufgeführt haben.

Daraufhin haben wir erläutert, dass der Fliegenpilz zuvorderst Ibotensäure enthält, die im Körper oder durch Trocknen zum wirksameren Muscimol umgewandelt wird, und gelernt, dass dieses an den GABA-Rezeptoren andockt und dort seine hemmende Wirkung auf die Nervenzellen entfaltet.

Darauf folgte eine Einordnung der typischen Symptome bei einer Fliegenpilzvergiftung. Wir führten aus, dass diese vorübergehend starke Abweichungen der Wahrnehmung von der Realität mit sich bringen kann, aber in aller Regel keine Folgeschäden hinterlässt.

Als Letztes haben wir uns mit der Frage beschäftigt, ob der Fliegenpilz tödlich ist. Wir kamen zum Schluss, dass Vergiftete den Pilz in dem allergrößten Teil der Fälle überleben, auch wenn der Tod durch Fliegenpilz prinzipiell möglich ist.

Abschließend lässt sich sagen, dass der Fliegenpilz im Vergleich zu anderen Giftpilzen in der Giftnotrufzentrale nicht den größten Schrecken auslöst. Beim Pantherpilz – dem großen Bruder des Fliegenpilzes, der deutlich mehr Muscimoläquivalent pro Fruchtkörper enthält –, muscarinhaltigen Pilzen wie Risspilzen oder gar amatoxinhaltigen Pilzen wie dem grünen Knollenblätterpilz sind die kurz- und langfristigen gesundheitlichen Schäden der betroffenen Person in der Regel deutlich größer. Eine Vergiftung mit dem Fliegenpilz sollte man sich dennoch, falls irgend möglich, sparen.

Literatur

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  1. Tatsächlich isolierten die Forscher nur eine Mischung aus Muscarin und Cholin. Die erste reine Isolation von Muscarin gelang King, 1922. Zur Geschichte von Muscarin ist Bowden & Mogey, 1958 sehr empfehlenswert. ↩︎

  2. Es gibt auch Zahlen für getrocknete Fruchtkörper. Laut Sauer & Weilemann, 2001, S. 66 enthalten 100g getrocknete Pilze 30-180mg Isoxazol. Die im Vergleich zu Frischpilzen deutlich höhere Menge ergibt sich dadurch, dass diese zu ca. 90% aus Wasser bestehen. Anhand der Zahlen lässt sich erkennen, dass der Wirkstoffgehalt um das sechsfache variieren kann! ↩︎

  3. Viele Leute, die den Fliegenpilz zu sich genommen haben, berichten von sehr lebhaften Träumen, an die sie sich detailliert erinnern können (Michelot & Melendez-Howell, 2003, S. 132). ↩︎